Kategorien
Aus dem Leben Gedanken

Was passiert, wenn ich meine Komfortzone verlasse (die Marc Marshall Edition)

Wie kompliziert und gleichzeitig Chancenreich das Verlassen meiner Komfortzone ist, hat mir der gemeinsame Besuch meiner Oma und mir, des Weihnachtskonzerts von Marc Marshall gezeigt. Hier, hier weiter unten und hier gibt es einiges über die teils schwierige Beziehung zu meiner Oma zu lesen – auch das hat viel mit der eigenen Komfortzone und einem Blick über den Tellerrand zu tun. Aus diesen Ereignissen heraus entstand die Idee, meiner Oma den Wunsch des Konzertbesuchs zu erfüllen.

Aber: Alles in mir sträubte sich gegen meine Entscheidung. Ich hab gerade so viel zu tun, da passte ein Besuch auf einem Konzert, dessen Musik nicht ansatzweise zu meinen Favoriten gehört, mit einer Person mit der es eher schwierig als leicht ist, eigentlich nicht in den Zeitplan.

Etwas zu tun, das ich eigentlich nicht möchte und bei dem ich mich potentiell unwohl fühle, sorgt sofort für entsprechende körperliche Begleiterscheinungen. Ich fühlte mich den ganzen Tag über hundeelend. Jeder Ton, jede Bewegung, jede Aufgabe war mir zu viel. Immer wieder spielte ich gedanklich durch, ob ich meiner Oma absage und wenn ja, was ich dann am besten sage, damit es vertretbar ist.

Drei Stunden bevor ich meine Oma abholen sollte, legte ich mich schlafen, weil es mir so elend ging. Als ich nach zwei Stunden aufwachte, fasste ich den Entschluss: „Das ziehst du jetzt durch!“.

Im Vorfeld zerdachte ich dann alles: Das Konzert fand nämlich in einer Kirche statt und ich wusste: da kriegt man nur sehr schwer einen Parkplatz. Meine Oma wollte maximal eine halbe Stunde vor Konzertbeginn da sein. Sie verspätete sich dann auch noch, während ich sofort alle Eventualitäten in meinem Kopf durch ging. Sicher würden wir keinen Parkplatz finden, so dass ich Oma vor der Kirche raus lassen müsste und dann zu spät zum Konzert käme und in der Kirche zwei Stunden stehen müsste, weil es keine Sitzplätze mehr gäbe. Mir wurde schlecht.

Entgegen meiner Befürchtungen war direkt vor der Kirche noch genau ein Parkplatz frei und wir fanden drinnen problemlos einen Sitzplatz. Meine Oma war glücklich und beeindruckt von der Kirche. Mir hingegen war immer noch schlecht. Wie sollte ich das bloß zwei Stunden aushalten?

In einer Kirche unter lauter Rentnern zu sitzen und sich irgendeinen Sänger für „olle Lütt“ reinziehen. Und das alles nur meiner Oma Zuliebe? Wie konnte ich so bescheuert sein! Ich merkte, wie eine bleierne Schwere in meinen Körper kroch.

Von irgendwo aus der Kirche erklang „Maria durch ein Dornwald ging“ in heftigstem Operngesang. „Na, Hallelujah…“ dachte ich. Die ersten Leute holten ihre Taschentücher raus, während ich meine Schläfen massierte und mir schwor, nie wieder etwas zu tun, nur weil jemand anderes es sich so wünschte.

Das erste Weihnachtslieder-Medley war furchtbar. Ich konnte mich einfach nicht darauf einlassen, meine kostbare Zeit mit „sowas“ zu vertrödeln. Aber dann fing Marc Marshall an, eine Geschichte über seine Kindheit zu erzählen und sang „Als ich ein Kind war“ (ich find es leider nirgendwo, sonst hätte ich es verlinkt).

Obwohl ich versuchte, mich dagegen zu wehren, gefiel es mir und berührte mich sogar. Dieser Moment änderte meine gesamte innere Haltung und sorgte für eine gewisse Milde, die mir half, das Konzert zu genießen und mich wohl zufühlen.

Plötzlich fielen mir viele kleine Regenbogen auf, die überall in der Kirche durch das Licht erzeugt wurden. Ich sah all die glücklichen Menschen um mich herum und bemerkte nun auch die beeindruckend tolle Stimme von Marc Marshall, die ohne Mikrofon die gesamte Kirche erfüllte. Nur wenige Menschen singen live & a capella so gut wie er.

Die Texte, die zwischen den Musikstücken vorgetragen wurden, regten zum nachdenken an und der gesamte Saal stimmte jedem der Worte, die Marc Marshall vorlas, mit einem „JAAA!“ „Ach, haha, ja WIRKLICH!“ zu. Das war zuckersüß!

Was mir während des Konzertes noch auffiel: alle Anwesenden haben das Konzert ohne Smartphone genossen. Das mag sicherlich auch daran gelegen haben, dass René Krömer (der Pianist), Marc Marshall und ich (vermutlich ) mit Abstand die Jüngsten waren. ? So war es jedenfalls ein noch schöneres Erlebnis. In einer Gruppe aus Menschen zu sein, die im Moment sind, statt durch den Bildschirm zu glotzen, war irgendwie heilsam.

Und die Moral von der Geschicht?

Ich habe einen wirklich schönen Abend mit meiner Oma verbracht, der uns näher zueinander brachte. In einem unserer Gespräche an diesem Abend begriff ich zum ersten Mal, dass meine Oma nicht gehässig ist (das sagte ich ihr auch).

Sie sprach von sich aus das Thema mit dem „Die ist abartig fett geworden“ Kommentar nochmal an (ein Kommentar meiner Oma zu meinem Opa, als ich mein Lieblingskleid trug). Aus ihrer Sicht sind solche Kleider nicht optimal für meine Figur und ihr ist es wichtig, dass ich toll aussehe. „Das ist doch schade, wenn du so ein Kleid trägst und dicker aussiehst als du bist! Du brauchst mehr so die A-Linien Kleider, aber nichts was unter dem Busen zusammen gerafft/geschnürt/genäht ist.“.

Dass ich diesen „abartig fett“ Ausdruck gehässig fand, schockierte sie. Sie empfindet mich dahingehend als empfindlich und lebt nach „Das darf man doch wohl sagen, wenn es stimmt!“. Ich sagte ihr, dass ihr scheinbar gar nicht bewusst ist, wie sehr mich sowas verletzt und dass ihre Wahrheit ja nicht meine Wahrheit sein muss. Das konnte sie nachvollziehen.

Als meine Oma sich für den schönen Abend und dafür, mal „raus zu kommen“ bedankte, auch weil sie an diesem Tag für einige Zeit nicht an meinen todkranken Opa denken musste, war ich wirklich gerührt.

Ich hab meine Oma lange für ein Monster gehalten. Vor allem wegen ihrer Geschichte mit ihren Kindern. Aber wenn ich selbst hinsehe, mit meinem eigenen Blick, frei von den Erzählungen anderer, dann seh‘ ich da kein Monster, sondern eine Frau, die ihre Geschichte geprägt hat. Die große Fehler begangen hat, die versäumt hat Dinge aufzuarbeiten, die eine Mauer um sich herum gebaut hat, die menschlich ist. Wie ich.

Eigentlich wollten meine Oma und ich noch ein Foto für diesen Beitrag von uns machen, aber irgendwie haben wir es vor lauter Gesprächen total vergessen. Deshalb bleibt dieser Artikel also nahezu Fotolos.

3 Antworten auf „Was passiert, wenn ich meine Komfortzone verlasse (die Marc Marshall Edition)“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert